Sommer 2020. Ich würde mich so gern selbstständig machen, Coachings geben und mich mit Menschen vernetzen. Nach meinen Vorstellungen arbeiten und mich so wenig wie möglich verbiegen. Aber die Pandemie hat mich voll im Griff. Ich möchte Sicherheit, Zusammenhalt und Verlässlichkeit spüren. Ich schaffe es nicht, mir diese Bedürfnisse in dieser Zeit anders zu erfüllen. Also stürze ich mich voll rein, schreibe täglich Bewerbungen für Voll- und Teilzeitstellen in meinen ursprünglichen Feldern – Marketing und Management. 

Herbst 2021. Ich öffne die Tabelle, die ich für meine Jobsuche erstellt habe und erschrecke. Wie habe ich es geschafft, mich inmitten der Pandemie, allein in einer anonymen Großstadt, 47 Mal zu bewerben? Woher habe ich bitte die Stärke genommen? 

Bewerben ist für mich ein unglaublich anstrengender Prozess – ähnlich wie für ein Casting anmelden (nicht, dass ich das schon oft gemacht hätte) oder die WG suche während des Studiums. Ich zeige mich unbekannten Menschen, versuche mit ein paar Seiten PDF (oder Videos, oder einem super netten Text auf WG-Seiten) zu gefallen und alles offen zu legen. Ich versuche so gut zu der Ausschreibung zu passen, wie es irgendwie geht, ohne mich komplett zu verbiegen.

Problem 1: Warum muss ich mich in meinen Bewerbungen so unfassbar offenbaren, bevor ich eingeladen werde?

Bei jeder Bewerbung, bei der ich Anschreiben, Lebenslauf UND Zeugnisse angebe, fühle ich mich, als würde ich mich komplett nackt vor das Büro stellen und sagen: “Guckt mal, das bin ich. Gut? Darf ich reinkommen?”. Welche Noten habe ich vor 15 Jahren im Abi bekommen? Geb ich gern durch, kein Thema, sagt sicher super viel über mich aus. Mein Arbeitszeugnis von meinem letzten toxischen Arbeitsplatz, den ich gekündigt habe? Ich bin mir sicher, dass es meine Stärken und Schwächen sehr neutral beschreibt. Meine Gehaltsvorstellung? Ja nein, ist total okay, dass ihr mir nicht sagt, was ihr für die Stelle vorgesehen habt, sondern ich einen educated guess mache, ob ich auf die Stelle passe. Könnt ihr ja dann entscheiden. 

Okay, es ist offensichtlich, dass ich kein großer Fan von Bewerbungsverfahren bin, wie sie bei vielen Unternehmen noch heute standard sind. Aber sind wir doch mal ehrlich: Bald können es sich Unternehmen einfach nicht mehr leisten, Stellen so auszuschreiben. Wir sind nicht mehr in der Zeit, als der Arbeitsmarkt voller Arbeitsbienchen war, die jeden Job mit Freude antraten, egal was sie dort erwartete. Heute gibt es in vielen Branchen einen Fachkräftemangel, so wird es zumindest beschrieben. Vielleicht sind viele Branchen aber auch einfach nicht mit der Zeit gegangen und bieten einem Menschen einfach nicht das, was dieser von seinem Leben – und damit auch seinem Arbeitsumfeld – erwartet.

Problem 2: Das Bewerbungsgespräch – ein absolutes Schauspiel

Wir sitzen uns gegenüber. Ich fühle mich fast, als müsste ich mich rechtfertigen, wie ich auf die Idee komme, mich bei euch zu bewerben. Warum ich denke, dass ich zu der Stelle passe, von der ich nur ein paar Zeilen lesen konnte. Meine Rückfragen zur Stelle, zum Team und zur Atmosphäre werden interessiert aufgenommen, “wirklich gute Fragen”, als wäre ich wirklich was besonderes, weil ich wissen möchte, worauf ich mich einlasse. Ich frage mich, was für verzweifelte Suchende sonst hier so sitzen. Ich möchte sie alle umarmen und sagen: Ihr habt ein Recht darauf, alles zu erfahren, was ihr wissen wollt, um euch dafür oder dagegen zu entscheiden! Es ist eure Lebenszeit!

Bei Bewerbungen auf Teilzeitstellen als Assistenz werde ich gefragt, ob ich dann nicht unterfordert sein würde. Mit meiner Antwort, dass ich den anderen Teil der Zeit mit meinem Business füllen möchte, scheinen meine Gegenüber dann aber auch nicht zufrieden. Möchte ich in einen neuen Bereich als Quereinsteigerin wechseln, habe ich zu wenig Erfahrung in der neuen Stelle. 

Das ganze Schauspiel strengt mich an. Ich bewerbe mich während einer f***ing PANDEMIE: Wir sind alle irgendwie am Limit. Wir sind alle irgendwie unsicher. Und spielen trotzdem dieses Theater weiter. Warum? Warum darf ich nicht einfach sagen: Hört zu, der Job ist nicht mein Traum, aber er erfüllt mein Bedürfnis nach Sicherheit. Ich kann euch nichts versprechen, aber das könnt ihr mir auch nicht – oder? 

Warum darf ich nicht einfach sagen: Mir geht’s nicht gut. Ich bin nicht bei 100%. Ich möchte mich gut aufgehoben fühlen und da wieder hin wachsen, im Team, gemeinsam. 

Warum könnt ihr nicht einfach sagen: Hey, wir finden dich gut. Wir haben bedenken, dass du schnell wieder gehst, weil das hier nichts für dich ist. Wir wollen auch gerade Sicherheit, kannst du uns die geben? 

Warum müssen wir in unseren Rollen verharren? Warum muss ich tough spielen? Warum müsst ihr undurchschaubar rüber kommen?

Problem 3: Der komplette BewerbungsProzess

Bei vielen Bewerbungsverfahren fällt es beiden Seiten schwer, genau heraus zu bekommen, ob die Bewerbenden zur Stelle und zum Team passen (und umgekehrt). Daher bin ich erst einmal Fan davon, beiden Seiten genügend Möglichkeiten zu geben – ein einziges Interview(-schauspiel) reicht nicht immer aus. Dennoch sind Menschen, die einen neuen Job suchen, meistens auch irgendwie beschäftigt. Mit weiteren Bewerbungen und Gesprächen, mit ihrem alten Job, mit ihrem Leben – you name it. Wie viel Bewerbungsverfahren ist nun angemessen, wie viel zu wenig oder zu viel? Well…

Ein Beispiel für zu viel habe ich in meinem Bewerbungssommer 2020 erlebt: Ich werde zum 30-minütigen Telefoninterview eingeladen. Das kurze Telefonat wurde dann ein einstündiges Gespräch. Die Woche danach wurde ich zu einem zweistündigen Vor-Ort-Termin mit drei weiteren Menschen eingeladen – noch niemand aus meinem Team. Weil das wirklich gut zu passen schien, wurde ich die Woche darauf gebeten, 2 Referenzen anzugeben von ehemaligen Chef*innen und Kolleg*innen. Diese wurden 20 Minuten befragt. Die Woche DARAUF bekam ich eine Einladung zu einem Vor-Ort-Termin im Hauptbüro – 200 km von meinem Wohnort. Also rein in den Zug, 2 ½ Stunden Fahrt, 3 Stunden “Experience Day”, 2 ½ Stunden Fahrt zurück.

Auf der Rückfahrt bekam ich direkt noch einen Anruf, ob ich noch Fragen hätte. Ich bin Auf der Rückfahrt bekam ich direkt noch einen Anruf, ob ich noch Fragen hätte. Ich bin verwundert, weil ich diese Frage eigentlich VOR ORT erwartet hätte. In den stylischen Büros waren sie allerdings etwas überrascht über mein Auftauchen. Ich wurde hin und her geschickt und konnt mir nicht so richtig ein Bild machen, geschweige denn Fragen stellen. Der Tag war irgendwie lang und irgendwie seltsam und ich bin komplett durch, weil ich nicht verstehe, was wir hier spielen.

Es wird von “New Work” gefaselt, aber ich sehe an den Schreibtisch festgebundene Mitarbeiter*innen mit Augenrändern bis zu den Knien. Die Büros sind ganz doll hip und trendy und mit Kickertisch und pipapo, aber anscheinend wurde eines vergessen: die Wertschätzung der Mitarbeitenden.

Die Wertschätzung ihrer Zeit, ihrer Kapazitäten, ihrer Ressourcen. Das spiegelt sich eben auch in diesem Prozess wieder, in den ich hier reingerutscht bin. Ja, ich hätte gern hier mit euch gearbeitet. Ja, ich möchte euch vorher erst einmal kennenlernen. Hab ich irgendwie auch. Weil ich jetzt weiß, was meine Zeit für euch wert ist. Ob Bewerbende anders behandelt werden als die Mitarbeitenden, kann ich nicht beurteilen. Aber Mensch bleibt Mensch, daher: Lasst uns doch bitte gegenseitig in die Augen schauen und wertschätzen, was unser Gegenüber hier gerade tut. Lasst uns offen mit dem Prozess sein. Ich bin mir sicher, eure Zeit ist wertvoll. Meine ist es auf jeden Fall.

Problem 4: Die Absagen auf die Bewerbungen

In einer Stelle, die ich wirklich gern machen würde, werde ich nach dem Telefoninterview nicht zum persönlichen Gespräch eingeladen, weil sie mir “die sinnvolle Arbeit, die ich mir wünsche, nicht bieten können.” Uiuiui…das sagt viel aus – darüber, für wie mündig sie ihre potentiellen Mitarbeitenden halten (können wir das vielleicht einfach besprechen und ich mich dann selbst entscheiden, für wie sinnstiftend ich meine Arbeit halte?). Zum anderen sagt es viel darüber aus, für wie sinnvoll sie ihre eigene Arbeit halten. Der genannte Grund lässt mich die Bitterkeit über die Absage durch eine Art Erleichterung, nicht in diesem Arbeitsumfeld gelandet zu sein, vergessen. 

Diese eher irritierende Absage enthält aber noch einen weiteren Passus: “Bewerte unser Auswahlverfahren doch bitte bei Plattform XY”. Ähm, nein, danke?! Ich mache es nicht, weil ich glaube, dass meine Bewertung durch die Absage wahrscheinlich nicht neutral wiedergibt, wie es war. Das Telefoninterview war ja doch irgendwie freundlich, oder? Auch wenn dieses wurde durch einen neuen Mitarbeiter und den Praktikanten geführt wurde. Heute denke ich: Eigentlich fragen sie ja danach, genau DAS bewertet zu haben. Den bevormundenden Absagegrund. Die Besetzung des Interviews. Meine Zeit, die durch dieses halbherzige Verfahren beansprucht wurde. Hätte ich es mal gemacht. Ganz ohne Bitterkeit, aber aus der Sicht einer Bewerberin, die sich absolut nicht auf Augenhöhe gesehen gefühlt hat.

Mögliche Lösung: Das Unternehmen sieht sich nicht als Bietender, sondern als Suchender. Auf Augenhöhe, nicht von oben herab.

Eine der 47 Bewerbungen ist mir noch sehr positiv in Erinnerung. Hier gab es für die Bewerbung zwei kurze Aufgaben, die ganz spezifisch auf die Stelle passten und mich trotzdem nicht schon Stunden an Arbeit kosteten. Diese Aufgaben waren also ein Win-Win-Win-Win: Das (in dem Fall ganz wundervolle) Unternehmen hatte sowohl die Sicherheit, dass sich die Bewerbenden wirklich mit der Stelle beschäftigt hatten (1. Win) als auch ein Auswahlkriterium, das sich komplett auf diese Stelle bezog und nicht nur auf das Präsentationsmaterial der Bewerbenden (2. Win). Die Bewerbenden auf ihrer Seite hatten zwar mehr Aufwand, als nur ihre Unterlagen zusammen zu kramen und ein paar Punkte im Anschreiben zu verändern, aber konnten direkt zeigen, was sie wie wirklich im Job machen würden (3. Win) und dazu selbst sehen, ob das etwas für sie wäre (4. Win). 

Hier wurde ich zum Interview eingeladen, welches sich als genau so wertschätzend herausstellte wie angenommen. Es war so kurz und doch informativ wie möglich, wir hatten ein Gespräch, mit allen Erwartungen, die wir aneinander hätten. Wir sind nicht umeinander rumgetänzelt wie bei einem Ballett. Die Rückmeldung erfolgte direkt ein paar Tage später in dem vorher genannten Zeitraum. Und obwohl ich den Job nicht bekomme habe, habe ich nur gute Erinnerungen an den gesamten Prozess. 

Ich kann mir vorstellen, dass viele Personaler*innen von großen Unternehmen dazu sagen: “Ja gut, bei uns ist das gar nicht möglich, ich kann die Stellenangebote und Rückmeldungen jetzt nicht auch noch individualisieren und alle sichten, ist alles automatisch.” Dazu möchte ich sagen: Dann könnte das Unternehmen, für das du arbeitest, in Zukunft Probleme bekommen, die passenden Mitarbeitenden zu finden. 

Die eben beschriebene Lösung ist auch nur ein Ansatz. Allgemein wichtig ist vor allem die Wertschätzung gegenüber der Zeit und Mühe der Bewerbenden. Wir sind eben keine Bittsteller, sondern überlegen genau, ob es sich lohnt, sich bei euch zu bewerben. Wenn wir das tun, möchten wir dafür auch auf Augenhöhe behandelt werden. Dazu könnte zum Beispiel zählen, vielleicht nicht vorher schon den kompletten Lebensweg auf Basis der Bewertungen anderer (aka Jobzeugnisse) mitschicken zu müssen. Oder die Gehaltsspanne für den Job offenzulegen, um so transparent wie möglich zu sein. Oder den kompletten Bewerbungsprozess so transparent und passend wie möglich zu gestalten. Oder auf Bewerbungen in einem angemessenen Zeitraum zu reagieren. Da ist so viel Luft nach oben. Mensch, ist da Luft nach oben!


Was sagt ihr? Kennt ihr tolle Lösungsansätze für dieses Dilemma? Oder habt ihr ähnliche Erfahrungen gemacht in euren Bewerbungen? Wir freuen uns sehr über den Austausch und Anregungen in den Kommentaren und auf Instagram.

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