Selbstoptimierung: Wie weit wollen wir gehen?
Not good enough – das quälende Gefühl, nicht gut genug zu sein, kennen wir doch alle. Ist fortwährende Selbstoptimierung die Lösung? Und wieviel Optimierung tut uns eigentlich gut?
Not good enough – das quälende Gefühl, nicht gut genug zu sein, kennen wir doch alle. Ist fortwährende Selbstoptimierung die Lösung? Und wieviel Optimierung tut uns eigentlich gut?
Bigger, better, faster, more – das Streben nach Perfektion kennen wir doch alle. Weniger Pommes und Schokolade, dafür mehr Gemüse und am besten komplett vegan. Kein Alkohol und Zigaretten, dafür mehr Yoga und Meditation im Alltag. Mehr Aufgaben in weniger Zeit, eine effektivere Arbeitsweise, der nächste Schritt auf der Karriereleiter. Doch ist das alles noch „normal“? Und tut uns das vor allem wirklich gut?
Sind wir denn wirklich alle nicht gut genug in dem, wie wir sind und in dem, was wir bereits tun? Warum sollen wir uns denn ständig optimieren? Wieso müssen wir besser aussehen und noch mehr leisten? Und vor allem für wen? Für uns selbst oder für alle anderen? Und überhaupt – warum dürfen wir denn nicht einfach so bleiben, wie wir sind?
Egal ob im Job oder das eigene Aussehen betreffend, hinter der Selbstoptimierung steckt oft das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Vor allem von Social Media und auch den Medien bekommen wir tagtäglich suggeriert, dass es noch besser geht. Da ist noch Luft nach oben, egal was wir tun! Unsere Wohnung könnte noch schöner, cleaner, minimalistischer sein. Und unser Körper? – Ein paar Kilo weniger können nicht schaden, mehr Muskeln, strafferes Gewebe und dafür weniger “Substanz.” Auch im Job können wir besser performen und mehr abliefern. Denn nur so bekommen wir Anerkennung, eine Beförderung und Likes. Anders gesagt: Selbstoptimierung ist der Wahn, dem Mainstream gefallen zu wollen.
Vor allem in den Bereichen Körper und Mindset taucht der Begriff der Selbstoptimierung beständig auf. Schöner, schlanker, fitter, selbstbewusster – viele Coaches da draußen treiben uns dazu an, (mit ihrer Hilfe und Drölftausend Dollars) die beste Version von uns Selbst zu werden. “Higher Self on” lautet die Parole – aber nur, wenn wir etwas an uns ändern. Mehr Mindset-Kurse, mehr Superfoods, mehr Crossfit. Auch im Bereich Selfcare ist die Selbstoptimierung angekommen. Längst geht es dabei nicht mehr darum, sich selbst etwas Gutes zu tun oder Grundbedürfnisse, wie Ruhe, Schlaf und Entspannung, die eigentlich selbstverständlich sein sollten, abzudecken. Der Trend neigt zu einer Art Reframing Selfcare, wobei Selbstfürsorge zu einem Selbstoptimierungs-Tool, einem Industrieprodukt wird – das natürlich Geld kostet.
Auch im Arbeitskontext taucht die Selbstoptimierung immer wieder auf. Mehr Aufgaben in weniger Zeit; mehr Umsatz, weniger Ausgaben. Eine anspruchsvollere Position mit mehr Verantwortung und mehr Gehalt. Mehr schaffen, mehr leisten. Time is money, so lautet auch heute noch die Devise in vielen Unternehmen.
Perfekt sein, um jeden Preis und alles geben im Job, vielleicht sogar die Extra-Meile gehen – das kenne ich aus meiner eigenen Berufserfahrung nur allzu gut. Präsentationen habe ich oft nach Feierabend und am Wochenende überarbeitet, bis sie perfekt waren. Artikel habe ich vor Redaktionsschluss x mal gegengecheckt und bin dafür extra länger geblieben oder früher ins Büro gekommen. All das auf Kosten meiner Freizeit und letztendlich auch zu Lasten meiner Gesundheit. Im Nachhinein denke ich, dass dieses Streben nach Perfektion im Job zum großen Teil daran liegt, dass wir es nicht anders gelernt haben. Denn bereits in der Schule bekommen wir beigebracht, dass Fehler nicht erstrebenswert sind. Lieber Schummeln und Abschreiben, als den Mut zur Lücke und auch mal eine schlechte Bewertung zuzulassen. Mutig sein und eigene Fehler zu ertragen, das lerne ich gerade und merke, dass es gar nicht so schlimm ist, nicht immer alles richtig zu machen. Unlearning perfection kann so unfassbar befreiend sein.
Teilweise sitze ich da und staune. Über uns alle und meinen eigenen Umgang mit mir Selbst, über den ganzen Selbstoptimierungsfirlefanz. Denn let’s face it: wir sind alle grundverschieden. Wir kommen mit unterschiedlichen Voraussetzungen – biologisch wie auch soziodemografisch – auf die Welt. Im Laufe unseres Lebens sammeln wir verschiedene Eindrücke und machen unterschiedliche Erfahrungen, auf die wir wiederum unterschiedlich reagieren. Warum sollen wir denn alle das Gleiche wollen, haben, müssen? Soll mein Leben genauso aussehen, wie das der anderen? Und will ich das überhaupt? Wie langweilig wäre es denn, wenn wir überall die gleichen Gesichter, Körper und Karrierewege sehen würden?
Eins ist sicher: würden wir all diese Erwartungen erfüllen und diese Ansprüche in die Tat umsetzen, wären wir vielleicht nahezu perfekt, aber mit großer Wahrscheinlichkeit auch verdammt unglücklich. Denn anstatt einfach zu genießen, nutzen (oder verschwenden) wir unsere Zeit damit, unser inneres Kind zu heilen und alte Glaubenssätze abzulegen*, möglichst viel Sport zu treiben, teure Cremes und Make-up aufzutragen und gesunde und komplexe Mahlzeiten zuzubereiten. Anders ausgedrückt: permanent perfekt sein zu wollen kostet verdammt viel (Lebens-)Zeit, Geld und auch Nerven. Und das alles zusammen macht auf Dauer eher unglücklich.
Wenn wir uns selbst dabei ertappen, dass wir etwas verbessern oder unser Leben optimieren möchten, könnte vielleicht auch ein Perspektivwechsel Abhilfe schaffen. Wenn ich meinen Hund Kalle so betrachte, glaube ich nicht, dass seine Gedanken um die Selbstoptimierung kreisen. Macht er sich Gedanken über seine (niedlichen) x-förmigen Vorderpfoten oder seine kleinen krummen Zähne? Möchte Hundedame Rita ihren Body optimieren und möchte Teddy seine zottelige Löwenmähne richten, um Karriere als Pawfluencer*in zu machen? – Ich denke nicht. Vielmehr denke ich sogar, dass sich die drei Vierbeiner sehr oft bei dem, was wir tun, fragen: Warum machen die das? Was tun sie da eigentlich – das Tippen an den kleinen blinkenden und piependen Dingern, das Rumzappeln auf der bunten Matte, das auftragen von komisch riechenden Cremes und Farben? Um sich dann wundernd einfach auf die Seite und in ihr nächstes Nickerchen kippen zu lassen.
Genau das sollten wir vielleicht auch tun: einfach mal hinlegen, anstatt uns aufzutunen. Wie bekloppt eigentlich, was wir uns selbst alles so antun. Würden wir eigentlich einer guten Freundin guten Gewissens dazu raten, sich ihren Körper „richten“ zu lassen? Oder nur noch die Hälfte zu essen? Oder mehr zu arbeiten und weniger zu feiern, um endlich den nächsten Karriereschritt einzuleiten? – Wohl eher nicht.
Aber wie bitteschön schaffen wir es denn dauerhaft, uns gegen die Selbstoptimierung aufzulehnen und dem Optimierungsdruck standzuhalten? Weniger Zeit online verbringen, sich nur mit “den richtigen Leuten zu umgeben,” nur ausgewählte Medien konsumieren? So richtig schaffen wir das doch nicht. Doch eigentlich nur, indem wir toleranter und sanfter zueinander und vor allem nachsichtiger und milder mit uns selbst sind.
Und genau damit sollten wir alle anfangen, jede und jeder für dich: Diese eine Sache, von der wir denken, dass sie noch besser sein sollte – nein müsste –, einfach mal nicht zu tun. Quasi vom Werbeversprechen Just do it! zu Don’t do it! Heute mal keine Sit-ups und Planks, sondern Liegenbleiben. Auch kein Salat und Friss-die-Hälfte, sondern Pizza, Pasta und eine große Portion Pommes mit Mayo. Und auch kein Make-up, Puder und Concealer, sondern come as you are. Genau damit fange ich auch gleich an: Genau dieser Text hier könnte noch bigger, better, faster, more sein. Reichweitenstärker, reißerischer, länger, anders und viel passender formuliert und schlichtweg einfach besser. Doch das ist er nicht. Punkt. Und das ist auch gut so. Denn dieser Text ist nicht perfekt, aber er ist einzigartig und authentisch. So wie wir alle – jede*r pur und auf ihre/seine Art perfekt – ganz ohne Optimierung.
Selbstoptimierung – wie steht ihr dazu? Welche Erfahrungen habt ihr damit gemacht und wie geht ihr damit um? Verratet es uns gerne in den Kommentaren oder auf Instagram.
©Photo by Gemma Chua-Tran. Thank you!
*Anmerkung: Natürlich ist es nicht verwerflich, das innere Kind zu heilen und alte Glaubenssätze aufzulösen. Im Gegenteil – beides kann für Menschen in schwierigen Situationen sogar sehr sinnvoll und hilfreich sein. Ich möchte damit nur (ein wenig überspitzt) darstellen, dass auch das Coaching Business ein Geschäftsmodell ist und sich der Selbstoptimierung nicht entziehen kann.