Neulich war kein guter Tag. Ich hatte schlecht geschlafen, denn mein Nachbar über mir hatte in der Nacht zuvor eine kleine Party veranstaltet. Das laute Reden und Lachen, die wummernden Bässe der Musik und das Getrampel zappelnder Schritte auf dem Paket hielten bis 2:00 Uhr morgens an. Das Ergebnis: ich hatte Wut.

Lange überlegt ich, wie ich ruhig bleiben könnte. Atemübungen, Meditation, vielleicht noch einmal aufstehen und eine Yogaeinheit dazwischenschieben? Immerhin war es Samstag, den nach hinten geschobenen Schlaf hätte ich am Morgen danach aufholen können. Allerdings kann ich morgens einfach nicht lange Schlafen. Zudem hatte ich bereits Pläne für den Vormittag gemacht. Ich drehte mich also von einer Seite auf die andere und dann wieder zurück. Schließlich reichte es mir und ich trommelte mit den Füßen (mein Bett steht auf einer Hochheben, im Liegen kann ich meine Beine so ausstrecken, das ich quasi auf der Zimmerdecke entlang spazieren kann) gegen die Zimmerdecke. Danach war Ruhe – in meiner Wohnung, in der darüber und irgendwie auch in mir.

Erst Wütend, dann schlechtes Gewissen

Eigentlich ein kleiner Erfolg. trotzdem konnte ich mich nicht so recht freuen, auch wenn ich mich befreit fühlte und nun endlich Ruhe war. Nun lag ich nicht mehr wegen der wummernden Bässe wach, sondern wegen meinem schlechten Gewissen. War ich zu streng gewesen? Mein Nachbar ist ansonsten nämlich sehr ruhig und soweit ich es beurteilen kann auch sehr nett. Warum war ich denn gleich so impulsiv, so zornig geworden? Es war doch nur ein bisschen laute Musik. Oder steckte mehr dahinter? Als ich so vor mich hin dachte, kam ich darauf, dass es eben nicht nur das bisschen Musik war, dass mich so wütend und schließlich den Vulkan in mir zum Überlaufen gebracht hatte. Die Musik von oben war quasi nur das Tüpfelchen auf dem i, dass mich – das Fass – zum Überlaufen brachte. Seit Wochen hatte sich unterschwellig Wut in mir angestaut. Ich schlief schlecht, was bei mir bedeutet, dass ich emotional angreifbarer bin. Kleine Dinge können mich aus dem Konzept bringen. Corona war im vollen Gange; schon seit Wochen hatte ich so gut wie niemanden aus meinem engeren Freundes- und Familienkreis live gesehen. Mein Job machte mich gerade nicht glücklich; es war eine Verkettung von Dingen – angefangen mit der unzuverlässigen Bezahlungen, bis hin zu endlosen Feedbackschleifen und das Verwerfen von vorher als extremst wichtig eingestuften Projekten, für die ich Überstunden geleistet hatte. 

Wut ist ein Gefühl, too

Im Grunde genommen beinhaltete dieser kleine Wutausbruch all das und endlich hatte meine Wut, ausgelöst durch eben diese olle laute Mukke von oben, endlich so viel Raum eingenommen, dass sie einfach nach draußen getragen werden musste. 

Diese Erkenntnis ließ mich kurz erleichtert Aufatmen, brachte mich allerdings gleich zur nächsten Fage: Warum verdammt nochmal hatte ich der Wut denn nicht viel früher eine Daseinsberechtigung gegeben und ihr erlaubt, sich lautstark auch nach außen Gehör zu verschaffen? Die Wut war da und sie war doch auch berechtigt, warum also fühlte ich mich schuldig, sie laut zu äußern? 

WÜtend ≠ unhöflich, laut und ungemütlich

Das Bild zeigt eine junge Frau, die auf dem Boden sitzt, ihren Arm auf einem Knie abstützt und wütend ist.

Eine vorläufige Antwort darauf lautet: Weil man das eben nicht macht, also andere Menschen anbrüllen. Und weil es unhöflich, laut und ungemütlich ist. Und auf den zweiten Blick auch einfach, weil ich es nie wirklich anders gelernt habe. In der Vergangenheit hat niemand zu mir gesagt: Toll, dass du wütend bist! Weiter so, lass deine Wut nur raus! Ich erinnere mich, dass ich als Kind auch manchmal so eine Wut hatte. “Einfach mal kräftig mit dem Fuß aufstampfen und erstmal tief durchatmen,” das waren die Worte meiner Mama, die mich damals bei meinen Wutausbrüchen versuchte zu besänftigen.

In der nett gemeinten Empfehlung meiner Mama war zwar das Rauslassen der Wut enthalten, allerdings auch die Komponente, die Wut erstmal mit sich selbst auszumachen, erstmal leise und ruhig zu werden. Was natürlich auch nicht ganz verkehrt ist – impulsiv, aggressiv, wütend drauf los zu stampfen ist auch nicht immer die beste Lösung. Trotzdem blieb bei mir dadurch hängen, dass Wut nicht wirklich (laut) sein darf. Eher, dass ich mich erstmal beherrschen soll. Denn Wut ist schlecht und gehört hier nicht hin. Wut ist negativ und wird still und heimlich heruntergeschluckt. Denn wer die Wut laut herauslässt und einen Tobsuchtsanfall bekommt, der ist weniger nett und liebenswert und wird vielleicht auch weniger ernst genommen. 

Wut ist wichtig

Je mehr ich im Dunkeln über das Thema Wut nachdachte, desto mehr kam ich zu der Übereinstimmung, dass wir einfach alle gar nicht wirklich lernen, richtig wütend zu sein. Bereits im Kindergarten lernen wir eine Art Streitkultur kennen, die sich eher darauf fokussiert, Konflikte schnell zu regeln und Kompromisse zu finden. Doch was ist mit unseren Bedürfnissen und dieser verdammten Wut, die wir doch alle einmal mehr, mal weniger haben? 

Nicht nur mein Nachbar von oben, die laute Musik und ich können ein Lied von der Wut singen. Wenn wir ehrlich sind, kennen wir sie alle, diese Momente, in denen wir vor Wut buchstäblich an die Decke gehen könnten – und es letztendlich doch nicht tun.

Und meistens merken wir an genau diesen Momenten, wie wichtig Wut eigentlich ist. Entweder, weil wir sie geradewegs rauslassen und uns danach meistens besser fühlen. Oder eben, gerade weil wir der Wut nicht gleich Raum geben, denn sie gerade braucht und sie wie einen Luftballon kurz vor dem Platzen schwerwiegend und schweigend mit uns herumtragen… bis er dann eben doch platzt.

Klar, Wut ist anstrengend und verdammt ungemütlich. Wut kann verletzen und schmerzhaft sein. Wut kann aber auch heilen und Erleichterung bringen. Wut kann befreiend sein und einfach gut tun. Denn unterdrückte Wut macht langfristig krank – das wissen wir doch alle. Das flaue Gefühl in der Magengegend, der verkrampfte Nacken, die schmerzende Schulter, das nächtliche Zähneknirschen, die schlaflosen Nächte, das unaufhörlich kreisende Gedankenkarussel, die schlechte Laune all das ist unterdrückte Wut. Wird die Wut größer, wachsen meist auch die Beschwerden. Auf Dauer tut das einfach keinem gut, nicht uns selbst und schon gar nicht unserer Umwelt. 

Wut ist gut

Dabei kann Wut auch so viel Großes bewirken. Wut kann heilen und dabei helfen, Konflikte auszudiskutieren und zu klären. Wut kann der Motor für Veränderung sein, denken wir doch nur an die Frauenbewegung, Fridays For Future oder Black Lives Matter. Und Wut kann auch Antrieb sein, Dinge anders und besser machen zu wollen. Und genau diese Art von Wut möchte ich mehr in meinem Leben haben: Die Wut, die mich antreibt meine Bedenken und Befindlichkeiten frei heraus zu äußern, ohne dass sie mich tage- und nächtelang umtreiben. Diese Wut, die es mir erlaubt, auch meine negativen Gefühle zuzulassen und nach außen zu tragen, ohne Angst, dadurch weniger zu sein. Und diese Wut, die mich antreibt, endlich Dinge anzupacken und die Welt – zumindest meine kleine 😉 – ein wenig besser zu machen.

Anstatt mir die Frage zu stellen: Darf ich das denn? Wütend sein und das auch zeigen? möchte ich ab jetzt meine Wut ernst nehmen, ihr mehr Raum geben und mir erlauben, lautstark wütend zu sein. Die Antwort, die ich mir von nun an selbst gebe, lautet: Ja, unbedingt! Sei laut und stark und wunderbar wütend, so viel du willst. Denn Wut (rauslassen) tut einfach gut!


Wie seht ihr das? Habt ihr ähnliche Erfahrungen mit Wut gemacht? Und wann wart ihr das letzte Mal so richtig wütend? Verratet es uns in den Kommentaren oder teilt es mit uns auf Instagram.

©Photos by Brooke Cagle on Unsplash. Thank you!